Offener Brief
an Euch, meine Juden und Jüdinnen in Deutschland, meine geliebten Familienmitglieder!
Mut.
Es hat immer Mut gebraucht, Jude und Jüdin zu sein.
Schon damals:
Vor 5784 Jahren, als unsere jüdische Welt begann.
Vor knapp 71 Jahren, als meine jüdische Welt auf einer kleinen Insel an der Ostküste Amerikas (Manhattan) begann.
Und auch jetzt wird er gebraucht.
Mut.
Er wird gebraucht, um sich weiterhin über die großen Errungenschaften jüdischen Lebens in Deutschland zu freuen:
Es gibt ja ca. 300.000 Juden und Jüdinnen in Deutschland. 138 jüdische Gemeinden. Stolze und steigende Zahlen.
Es gibt zahlreiche jüdische Museen und Kulturtage (Klezmer-Festivals, jüdische Filmfestivals u.s.w.).
Seit dem 8. Mai 1945 wurden sehr viele Brücken zwischen Juden und Nicht-Juden in diesem Land gebaut.
Viele dieser Brücken wurden von uns gebaut – in Form von heißbegehrten Synagogen-Führungen sowie Besuchergottesdiensten. Organisiert von und mit der Zivilgesellschaft – durch Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und ähnliches.
Mut. Er wird auch gebraucht, um sich weiterhin über die großen Errungenschaften der Bundesrepublik Deutschland zu freuen: Unter anderem den Rechtsstaat. Nach wie vor schützt er uns alle – Juden, Muslime, Christen, Atheisten, Inländer und Ausländer – vorbildlich. Nach wie vor würde ein Verbrechen gegen meine Person und mein Eigentum mit selbstverständlicher Konsequenz und Effizienz geahndet werden.
Stolz sein können wir auch auf unsere Erinnerungskultur, die einmalig auf der Welt ist.
Von Deutschland aus kamen Kriege und schlimmste Verbrechen über die Menschheit. Verbrechen, die ich täglich verarbeite durch meine Gedenkarbeit.
Von Deutschland aus – und zwar von Gunter Demnig und den 100.000. Menschen, die mit ihm und seinem Team meistens pro bono zusammenarbeiten – kamen und kommen die Stolpersteine.
120.000 Stolpersteine in 1800 Städten, verteilt über 31 Länder – u. a. in München mit bald 350 Stolpersteinen. Das größte und wirkungsvollste Gedenkprojekt, das die Welt je erlebt hat.
Groß und wirkungsvoll: Dank der Stolpersteinen gedenken Menschen von Tromsö bis Athen, von Barcelona bis Riga der Opfer der Shoah und des Nazi-Terrors. Und zwar in jeder Sekunde von jeder Minute von jeder Stunde vom jeden Tag.
Dank der Stolpersteine kennen die Europäer die Schicksale der Opfer der Shoah – und nehmen daran teil. Durch Recherchen, Fundraising, Putzaktionen.
Dank der Stolpersteine und ähnlichen Gedenkprojekten wurden und werden Europäer für jüdisches Leben und Leiden sensibilisiert. Dadurch wird mit dem jüdischen Leben solidarisiert.
Die große Frage:
Nun höre ich Euch raunen: Wo sind diese Solidarität und Sensibilität heutzutage? In dieser Zeit, in der die Gleichung Jüdisch = Gazakrieg herrscht.
In dieser Zeit, in der von jedem Juden und jeder Jüdin in jedem Gespräch Rechenschaft für den Krieg verlangt wird.
In dieser Zeit, in der Nicht-Juden uns häufig wie Aussätzigen behandeln und deswegen meiden.
An wen denke ich gerade? Richtig! Die Documenta- und Berlinale-Intellektuellen, die scheinbar alles, was sie in den Schulen über die deutsche und jüdische Geschichte gelernt haben, vergessen haben. Die wieder auf Irrwegen sind – wie so häufig in der Vergangenheit.
Liebe Jüdinnen und Juden, liebe Familienmitglieder, es liegt an uns, unsere Zivilgesellschaft zur objektiven Wahrnehmung und zum Geschichtsbewusstsein zurückzuführen. Nicht nur durch kluge und faire Stellungnahmen und womöglich Tik-Tok-Videos (wenn es denn sein muss), sondern durch uns – unsere Personen. Wir müssen auf den Straßen und in Medien persönlich anwesend sein.
Wir müssen uns sichtbar für die anderen Mitglieder der Zivilgesellschaft machen. In aller unserer unspektakulären Normalität.
Wir müssen gesehen werden, um gesehen zu werden, als diejenigen, die wir wirklich sind:
Bürger:innen, die so viel dazu beigetragen haben, das die schlimmste Terrorregierung der Geschichte zu einem fortschrittlichen Rechts- und Sozialstaat von heute geworden ist. Ich liebe und bewundere Dich, Fritz Bauer!
Bürger:innen, die jeden Tag dazu beitragen, dass Deutschland und Europa nicht nach rechts und wieder in das faschistische Abenteuer driftet.
Sichtbar werden verlangt Mut. Viel Mut.
Aber eins zeigt unsere lange Geschichte: In entscheidenden Momenten haben wir Juden und Jüdinnen immer den nötigen Mut gefunden. Um uns aus der Sklaverei und Tyrannei zu befreien. Um zu leben und zu überleben. Immer wieder.
Seit 5784 Jahren kämpfen wir mutig um unsere Freiheit und unser jüdisches Leben.
Es ist doch nicht die Zeit, damit aufzuhören.
Liebe Jüdinnen und Juden, liebe Familienmitglieder, ich freue mich auf unseren mutigen Kampf um die deutsche und europäische Gesellschaft. Auf Euch.